Nachfolgend finden Sie die Rede des Kultusministers Bernd Busemann, gehalten am 17. März 2003 anlässlich der Einweihung des Neubaus an der Oswald-Berkhan-Schule

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Kükelhan,
sehr geehrter Herr Sonderschulrektor Fricke,
sehr verehrte Abgeordnete des Niedersächsischen Landtages
meine sehr verehrten Damen und Herren,
und vor allem:
liebe Schülerinnen und Schüler!Die Teilnahme an dieser Feier zur Einweihung des Neubaus der Oswald – Berkhan – Schule in Braunschweig will ich am Anfang meiner Amtszeit als Kultusminister zum Anlass nehmen, einige grundsätzliche Anmerkungen zur sonderpädagogischen Förderung in unserem Lande zu machen. Ich beschränke mich dabei auf aus meiner Sicht wirklich Wesentliches und ich verbinde dies aus nahe liegenden Gründen mit einigen Hinweisen auf Geschichtliches und Gegenwärtiges.

Die Stadt und der Bezirk Braunschweig blicken auf eine lange Geschichte der Fürsorge, Betreuung und schulischen Förderung von Menschen mit Behinderungen zurück. Bereits 1868 erwarb der Pastor Gustav Stutzer in seiner Gemeinde Erkerode am Elm ein Haus, in dem er zehn Jugendliche mit geistiger Behinderung aufnahm. In der Braunschweiger Gesellschaft fand er für seine Pläne besondere Unterstützung bei Louise Löbbecke und bei dem Geheimen Sanitätsrat Dr. Oswald Berkhan, dem Namensgeber dieser Schule.

Oswald Berkhan war es, der den Lehrer Heinrich Kielhorn und den Schuldirektor Gustav Schaarschmidt in dem Anliegen unterstützte, in Braunschweig Hilfsschulklassen einzurichten. Heinrich Kielhorn hatte erkannt, dass in den damaligen Klassen mit den hohen Schülerzahlen eine individuelle und kindbezogene Förderung nicht möglich war.

Die Einrichtung der Hilfsschulklassen erfolgte 1881. Wenige Jahre später konnte festgestellt werden:

„Aus unbedeutenden Anfängen hervorgewachsen, hat die Hülfsschule, nachdem sie lange Jahre hindurch mit Gleichgültigkeit, ja offenem Widerstreben zu kämpfen hatte, im letzten Jahrzehnt zu einer durch weite Kreise und die verschiedensten Volksschichten verbreiteten Anerkennung sich hindurch gerungen. In der Erkenntnis, dass die Hülfsschule einem dringenden Bedürfnis abhilft, und dass daher an ihrer Existenzberechtigung, ja an der unbedingten Notwendigkeit ihres Vorhandenseins nicht gezweifelt werden kann, bezeugen ihr Schul-, Regierungs- und Kommunalbehörden volle Anerkennung und bereitwilligstes Entgegenkommen.“

Dies sind die einleitenden Sätze eines Aufrufes zur Gründung eines Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands von 1897. Dieser Aufruf entstand in der Hilfsschule in Hannover bei einem Besuch aller Braunschweiger und Bremer Hilfsschullehrer. Unterzeichnet ist der Aufruf an erster Stelle vom Sanitätsrat Dr. Berkhan aus Braunschweig. Dem Aufruf zur Gründung eines Verbandes wurde entsprochen, dieser Verband besteht heute noch – als Fachverband für Behindertenpädagogik. Und der Landesvorsitzende Niedersachsens, Herr Sonderschulrektor Reinhard Fricke, ist der Leiter der hiesigen Oswald-Berkhan-Schule.

Diese bemerkenswerte Verbindung von Vergangenem und Gegenwärtigem zeigt sich auch im Inhaltlichen: Im Aufruf zur Gründung des Verbandes heißt es an anderer Stelle:

„Je weiter aber das Hülfsschulwesen sich ausbreitet, um so mehr tritt auch an uns die ernste Mahnung heran, dasselbe innerlich auszugestalten, damit unsere Schulen in immer höherem Masse den in sie gesetzten Erwartungen entsprechen. Es gilt, in rastlosem Forschen sich immer tiefer zu versenken in den Geisteszustand unserer Zöglinge; es gilt, Mittel und Wege ausfindig zu machen, wie man ihrem Geiste nahe zu treten, ihn anzuregen und auszubilden vermag; es gilt, in allen Kreisen und Verhältnissen das rechte Verständnis, die nötige Rücksicht und die verdiente Teilnahme für die unserer Obhut anvertrauten armen Kinder zu erwecken.“

Wir sprechen heute eine andere Sprache. Wir bekennen uns aber ausdrücklich zu den gleichen Zielen. In der Regierungserklärung vom 4. März 2003 hat Ministerpräsident Christian Wulff ausgeführt:

„Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben Anspruch auf eine ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen angemessene Förderung. Dabei sollen sie denselben Erwartungen gerecht werden können wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, soweit dies möglich ist. Maßstab aller schulpolitischen Entscheidungen muss das Kindeswohl sein.“

Ich knüpfe an diese Aussage an und möchte sie aus meiner Sicht gerade vor Ihnen in dieser Schule verstärken und weiter führen.

Kindeswohl verstehe ich hier nicht wie üblich in einem juristischen, sozialpädagogischen oder psychologischen, sondern in einem umfassenden pädagogischen, auf Entwicklung bezogenen Sinne. Das Kindeswohl schließt Geistiges, Seelisches und Körperliches ein. Alle pädagogischen, therapeutischen, pflegerischen und betreuerischen Angebote und Zuwendungen müssen dem Anspruch auf eine ganzheitliche Entwicklung des Kindes genügen. Fähigkeiten, Begabungen und Neigungen sind ebenso zu berücksichtigen wie insbesondere bei Kindern mit Behinderungen individuelle Bedarfe und elementare Bedürfnisse. Dazu gehören Bedürfnisse nach Anregung, Spiel und Leistung, nach Schutz und nach Selbstverwirklichung.

Ganz vorrangig steht für uns das Bedürfnis nach einfühlendem Verständnis, nach sozialer Bindung und Wertschätzung. Ihre Schülerinnen und Schüler, Ihre Kinder und Jugendlichen, sollen die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft erfahren, sie sollen sich als mittendrin erleben und aufgehoben fühlen. Keiner darf vergessen und verloren werden, niemand darf zurück bleiben. Wir nehmen die bedingungslose Anerkennung jeder Schülerin und jeden Schülers mit sonderpädagogischem Förderbedarf als seelisch und körperlich wertvollen Menschen ernst. So wollen wir bei der Ausgestaltung der sonderpädagogischen Förderung vom Wohl des Kindes ausgehen. Das Kind und nicht das System steht bei uns im Vordergrund.

Grundsätzlich gilt für alle: Jedes Kind hat einen je individuellen Anspruch auf seine bestmögliche Entwicklung und auf die umfassende Entfaltung seiner einzigartigen Persönlichkeit. Ich bitte Sie, ja, fordere Sie auf, den pädagogischen, therapeutischen und pflegerischen Auftrag, den Sie in Ihrer Schule wahrnehmen, darin zu sehen, für die Entwicklung Ihrer Kinder und Jugendlichen fördernde Bedingungen herzustellen und hemmende Bedingungen zu überwinden. Ausgang vom Kindeswohl bedeutet in diesem Sinne, seine Interessen wahr zu nehmen, sich an seine Interessen gebunden fühlen und ihnen verpflichtet zu sein und alle notwendigen und alle möglichen Formen der Förderung und Herausforderung, der Unterstützung und Hilfe bereit zu stellen. Dabei versteht es sich von selbst, dass immer wieder die Angemessenheit, die Zeitgemäßheit und die Zielgerichtetheit der Angebote überprüft und angepasst werden müssen. Ich darf abschließend zu diesem Gedankengang Oswald Berkhan zitieren, der 1899 über die Grundsätze, nach denen Hülfsschulen für schwachsinnige Kinder einzurichten sind, ausgeführt hat:

„Die Aufgabe einer Hülfsklasse oder Hülfsschule soll darin bestehen, Kindern (..) durch einen besonderen, ihrer Befähigung angepassten Unterricht soweit als möglich auszubilden und dadurch deren Zukunft in Bezug auf Erwerbsfähigkeit und bürgerliche Stellung günstiger zu gestalten.“

Die Arbeit für die Kinder und Jugendlichen als individuelle Entwicklungshilfe kann in einem anspruchsvollen Sinne nur geleistet werden, wenn die äußeren und inneren Bedingungen stimmen: Schulträger und Land müssen ihren Verpflichtungen nachkommen und die sächlichen und personellen Voraussetzungen schaffen und bereit stellen. Politik für Kinder ist mit den Rechten von Kindern verbunden und ihrem Angewiesensein auf eine angemessene und verantwortliche Berücksichtigung ihrer Rechte. Dass der Schulträger seine Hausaufgaben macht und Vorbildliches leistet, ist hier und heute unübersehbar. Ich habe eingangs angedeutet, dass diese Stadt sich immer für Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise eingesetzt hat. Ein bedeutsames Datum ist dem noch hinzu zu fügen: 1964 wurde in dieser Stadt die erste Schule für Geistigbehinderte in unserem Land gegründet – bis zu dem Zeitpunkt besaßen Kinder und Jugendliche überhaupt nicht die Möglichkeit des Schulbesuchs. In den vier Jahrzehnten, die seither ins Land gegangen sind, hat der Schulträger immer wieder erhebliche Anstrengungen und Aufwendungen erbracht, um den sich wandelnden Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler zu entsprechen. Dafür ist der Stadt Braunschweig an dieser Stelle im Namen der Kinder und Jugendlichen und ihrer Eltern herzlich zu danken.

Die Zuweisung der Lehrerinnen und Lehrer, der Pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unterrichtsbegleitender und therapeutischer Funktion und der Betreuungskräfte ist die Aufgabe des Landes. Sie wissen, dass die neue Landesregierung alle Anstrengungen unternehmen will und wird, um die bestmögliche personelle Versorgung aller Schulen sicher zu stellen. Es steht dabei außer Frage, dass bei der angestrebten Verbesserung der Unterrichtsversorgung auch die Sonderschulen und die sonderpädagogische Förderung einbezogen werden. Wir wollen zusammen mit den Städten, Gemeinden und Landkreisen zum Wohle der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf handeln. Dieses Angebot zur Zusammenarbeit gilt auch für die Verbände, die sich mit ihrem Fachverstand für die sonderpädagogische Förderung und ihre Weiterentwicklung einsetzen. Wir lassen uns dabei von der Vorstellung leiten, dass wir Partnerschaften für Erziehung und Förderung brauchen – im Kleinen wie im Großen.

Ich habe Oswald Berkhan zitiert, der im Hinblick auf die Kinder von Notwendigkeiten sprach – Verständnis, Rücksicht und Teilnahme. Lassen Sie mich diese Grundsätze auch auf alle die beziehen, die in dieser Schule und für diese Schülerinnen und Schüler tätig sind. Unterricht und Erziehung, Förderung und Bildung gelingen für die Schülerinnen und Schüler nur, wenn die in der Schule Handelnden auch dafür Unterstützung erfahren. Der Ministerpräsident hat in seiner Regierungserklärung darauf verwiesen, dass die Lehrerinnen und Lehrer unseren Respekt verdienen, unsere Anerkennung, unser Lob und Vertrauen. Ich darf hieran in diesem Hause anknüpfen und meine Wertschätzung für die Lehrerinnen und Lehrer, Pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und alle, die Betreuungsaufgaben wahrnehmen, zum Ausdruck bringen. Sie leisten eine wichtige und unverzichtbare Arbeit, für die ich großen Respekt habe und sie haben es verdient, dass man dies öffentlich macht. Ihnen wird oft von innen und von außen einiges zugemutet. Öffentliche Anerkennung soll sie aber auch bestärken und ermutigen, ihre sowohl anstrengende und zuweilen belastende als auch menschlich befriedigende Arbeit zu bejahen, anzunehmen und fortzusetzen.

Wenn Oswald Berkhan heute zu Besuch in die nach ihm benannte Schule käme, würde er staunen. Ein Grund wäre darin zu sehen, dass er hier Schülerinnen und Schüler antreffen würde, für die er zu seiner Zeit keinen Platz in der Schule sondern in der Anstalt sah. Er hätte auch seine Freude an den bemerkenswerten Darbietungen der Schülerinnen und Schüler, wie wir sie erleben durften.
Ich schließe mit einem nochmaligen Dank an den Schulträger, der in dieser Zeit unübersehbar erhebliche Kosten aufbringt, um Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf angemessene Räume zum Lernen und Leben bereit zu stellen.

Ich wünsche allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Oswald – Berkhan – Schule und ihrem Schulleiter, dass es ihnen durch ihre gemeinsamen Anstrengungen und in bewährter Zusammenarbeit vor allem mit den Eltern, dem Schulträger, den anderen allgemein bildenden Schulen, der zuständigen Schulbehörde und allen anderen, die dazu beitragen können, weiterhin gelingen möge, den Bedürfnissen und den Bedarfen der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen an ihrem jeweiligen Förderort gerecht zu werden. Lassen Sie sich beim Ausgang vom Kindeswohl von Berkhans Rat leiten:
Verständnis für die Sache, Lust und Liebe zu dem Unterricht!

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